Der zweite Handlungsstrang meines Romans befasst sich mit der jüngeren Vergangenheit der Stadt, die während der DDR-Zeit für unangepasste Jugendliche als ausgesprochene oder unausgesprochene Drohung über allem hing. Für den Satz: »Wenn du nicht artig bist, kommst du ins Heim!« gab es noch eine Steigerung: »Wenn du dich nicht zusammenreißt, kommst du nach Torgau!«
(Ausschnitt eines Buchcovers aus dem Osburg Verlag)
Die zweite Figur meines Romans war mit vierzehn Jahren für sechs Monate im einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau eingesperrt. Was das für die Jugendlichen bedeutete, kann man in vielen Erfahrungsberichten nachlesen: Zwangssport bis zur Erschöpfung, Ausführung sämtlicher Tätigkeiten im Laufschritt, Arrest, Dunkel- und Einzelzellen zur Bestrafung, Kollektivstrafen, Misshandlungen und Missbrauch, kurz: Alles, um den Willen der Jugendlichen zu brechen und aus ihnen »vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und sozialistische Persönlichkeiten« zu machen.
Im Verwaltungsgebäude des ehemaligen Jugendwerkhofes gibt es eine sehr eindrückliche Ausstellung, in der es den Ausstellungsmachern gut gelungen ist, das Bedrückende und Menschenverachtende derartiger Einrichtungen in der DDR erahnbar zu machen.
Heute leben in den ehemaligen Arrestzellen, Arbeitsstätten und Schlafräumen ganz normale Familien. Unten an der Mauer kann man den ehemaligen Hof der Jungen mit der Sturmbahn sehen, über die sie bis zur Erschöpfung gejagt wurden.
Die Dame in der Mitte, Margot Honecker, erste Frau im Staate, war verantwortlich für das System der Jugendhilfe, zu dem auch die Jugendwerkhöfe gehörten. Meist fing es jedoch mit Kinderheimen an, aus denen dann vor allem chronische »Entweicher« in die Jugendwerkhöfe weitergeleitet wurden. Um in ein Kinderheim eingewiesen zu werden, reichte es schon, wenn die alleinerziehende Mutter nicht mit dem »schwierigen« Kind fertig wurde oder ein Schüler in der Schule auffällig wurde, schwänzte oder antisozialistische Meinungen äußerte. Die Zustimmung der Eltern zur Einweisung in ein Heim war dabei nicht vonnöten.
Einlieferungsroutine, zu der auch das Abrasieren der Haare gehörte. Auch bei Mädchen. Ein erster Angriff auf die Würde der Jugendlichen.
Diese Regeln finden sich, neben vielen anderen, in der Ausstellung der Gedenkstätte GJWH in Torgau.
Unter dem kleinen roten Vordach an der rechten Seite des weißen Hauses, in dem damals die Arbeitsstätten der Jugendlichen waren, geht es in den Keller zu den Arrestzellen, von denen einige heute noch zu besichtigen sind.
Besonders gefürchtet war der sogenannte Fuchsbau. Ein Loch, in dem man nicht aufrecht stehen konnte, wo man auf dem blanken Betonboden stundenlang im Dunkeln kauern musste, ohne eine Möglichkeit zu haben, seine Notdurft zu verrichten, ohne Licht und ohne Nahrung.
Foto aus der Ausstellung: So waren die Zellen eingerichtet. Nicht im Bild: der Eimer für die Notdurft. Auf der Holzpritsche durfte nur nachts gelegen werden. Entweder hatte man auf dem Hocker zu sitzen oder in der Zelle zu stehen. Kam ein Erzieher, musste man in Grundstellung gehen und Meldung machen.
Es ist nicht verwunderlich, dass viele der damaligen Insassen noch jahrzehntelang, teilweise bis heute, unter den Erlebnissen in dieser Einrichtung litten bzw. leiden.